Digitale Palimpseste und Recht

Die digitale Welt befindet sich in einem ständigen Wandel.

Technologien und Systeme werden ständig verbessert, überarbeitet oder ersetzt.

Wenn wir diese Metapher der digitalen Palimpseste für das Recht anwenden, kommen wir zu folgenden Einsichtigen.

  1. Verstehen von Kontinuität und Wandel

Alte Geschäftsmodelle, Software und sogar rechtliche Rahmenbedingungen bleiben bis zu einem gewissen Grad bestehen, werden aber von neuen Entwicklungen überlagert.

Wie bei einem Palimpsest bleiben Spuren des Alten bestehen und beeinflussen das Neue, und diese Koexistenz schafft ein vielschichtiges System, in dem Altes und Neues ineinandergreifen.

Ein europäischer Rechtsfall, der das Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Wandel in der digitalen Welt verdeutlicht, ist der Fall „Google Spain SL, Google Inc. v.  Agencia Española de Protección de Datos (AEPD), Mario Costeja González“ (2014), bekannt als Beispiel für das „Recht auf Vergessenwerden“.

2. Vergangenheit und Zukunft verbinden

Digitale Palimpseste zeigen, dass die Vergangenheit nicht einfach ausgelöscht wird – sie bleibt präsent und beeinflusst die Gegenwart. Im Hinblick auf digitale Inhalte wie Daten oder Algorithmen wird deutlich, dass vergangene Entscheidungen, Fehler oder Innovationen die Grundlage für das bilden, was wir heute und in Zukunft nutzen.

Eine zentrale europäische Rechtsnorm, die Vergangenheit und Zukunft im Kontext digitaler Inhalte, Daten und Algorithmen verbindet, ist die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), insbesondere das Prinzip der Datenminimierung und das Recht auf Berichtigung (Artikel 5 und 16). Auch die algorithmische Transparenz nach der DSGVO ist von entscheidender Bedeutung. Wenn Algorithmen auf historischen Daten basieren, einschließlich Verzerrungen oder Fehlern, müssen diese Schwächen beseitigt werden, um sicherzustellen, dass sie zukünftige Ergebnisse nicht negativ beeinflussen.

3. Flexible, iterative Regulierung ermöglichen

Digitale Palimpseste bestehen aus verschiedenen Schichten – Daten, Algorithmen, Netzwerken, Gesetzen, sozialen Interaktionen –, die alle miteinander verflochten sind.
Die Verflechtung und Überlappung dieser Schichten macht es oft schwierig, klare Linien zu ziehen oder einfache Lösungen zu finden.

Die DSGVO verdeutlicht, wie europäische Rechtsnormen die Komplexität digitaler Ökosysteme angehen können, indem sie mehrere Dimensionen – Daten, Technologie, rechtliche Verpflichtungen und soziale Implikationen – in einen einheitlichen Regulierungsrahmen integrieren.

5. Kritische Bewertung von Transparenz und Verantwortung

Ein digitales Palimpsest ist schwer zu lesen, da die verschiedenen Schichten oft übereinanderliegen. Das Gleiche gilt für die Transparenz und Rückverfolgbarkeit digitaler Systeme, insbesondere in Bezug auf KI. Entscheidungen und Datenverarbeitungen sind oft in tiefen Schichten verborgen und schwer nachvollziehbar.

Eine relevante europäische Rechtsnorm für die kritische Bewertung von Transparenz und Verantwortung im IT-Recht, insbesondere in Bezug auf digitale Systeme und KI, ist das Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA).

Der DSA zielt darauf ab, die Transparenz und Verantwortung in der digitalen Landschaft zu verbessern, insbesondere bei Plattformen, die große Datenmengen verarbeiten und komplexe Algorithmen einsetzen. Durch die Durchsetzung von Transparenzanforderungen bei Inhaltsmoderation, Entscheidungsprozessen und algorithmischen Operationen soll der DSA dazu beitragen, die verschiedenen Schichten digitaler Systeme besser zu verstehen und zu bewerten.

6. Das Wesentliche bewahren

Wie bei einem Palimpsest kann nicht alles überschrieben werden – bestimmte Elemente sollten bewusst bewahrt werden.
In einer digitalen Welt, die von ständigem Wandel geprägt ist, müssen grundlegende Werte geschützt und erhalten bleiben.

Ein zentrales Rechtskonzept, das mit der Bewahrung des Wesentlichen in einer digitalen Welt im Einklang steht, ist der „Schutz der Grundrechte“.

Dieses Konzept betont die Wahrung grundlegender Werte wie Privatsphäre, Sicherheit und Grundrechte, selbst angesichts fortschreitender technologischer Entwicklungen und Veränderungen.

Verschiedene EU-Richtlinien und Verordnungen, wie die ePrivacy-Richtlinie und die Cybersecurity-Verordnung, verankern den Schutz von Privatsphäre, Datensicherheit und anderen Grundrechten im Kontext digitaler Systeme. Diese Schutzmaßnahmen sollen sicherstellen, dass grundlegende Werte auch im Zuge des technologischen Fortschritts bewahrt bleiben.

Bildmaterial, Anton Seder’s The Animal in Decorative Art (1896)

Anton Seder’s *The Animal in Decorative Art* (1896) — The Public Domain Review