Das Gehirn des Kybionten

Der  französische Informatiker und Mikrobiologe Joël de Rosnay sieht die menschliche Gattung vor eine völlig neue Herausforderung gestellt. In seinem Buch „Homo Symbioticus“ spricht er von der Verbindung des Planeten mit den menschlich geschaffenen Infrastrukturen. Dies sei ein von innen heraus lebender Organismus, der eine höhere Organisationsstufe aufweise als er selbst.

Um eine Vorstellung zu bekommen, was er meint, wählt Rosnay die Metapher des Kybionten. Dieses Bild sei geeignet, um damit den planetaren Makroorganismus zu umschreiben. (Rosnay, Homo symbioticus. Einblicke in das 3. Jahrtausend, München 1997).

Vieles deute darauf hin, dass der Kybiont in seinem Urzustand existiere. Die Städte, die konzentrierten oder verstreuten menschlichen Gemeinschaften, die Maschinenpopulationen, die Kommunikations- und Transportnetze sind längst sichtbare Makrostrukturen, die die vitalen Organe oder Geflechte des Kybionten bilden. Dieses hybride menschliche Geflecht breite sich nun über die Erdoberfläche aus.

Wie jeder lebende Organismus sorgt der Kybiont mittels der Menschen und Maschinen für die Sicherung seiner wichtigsten Grundfunktionen: Selbsterhaltung, Selbstregulierung, Selbstreparatur. Er ernährt sich und wandelt Energie um, er verdaut und entledigt sich seiner Abfälle. Die vitalen Gewebe des planetaren Makroorganismus sind in Entsprechung zu einem lebenden Organismus differenziert.

Das Gehirn des Kybionten

Die mit Computern verbundenen planetaren Kommunikationssysteme bilden die Vorstufe, sie sind das Nervensystem und das Gehirn des Kybionten. Immaterielle Datenströme, Steuerungsbefehle, Unterhaltungen, Bilder und Töne, dies alles befindet sich ständig im Umlauf.

In der Schnelllebigkeit der Märkte, in den Zuckungen der Börse und im Schwanken der Wechselkurse offenbare sich das Leben des Kybionten.

Abb.: Julien Then/gemeinfrei
Das Bild von Julien Then wird untertitelt: „Der Mensch in Bedrängnis geraten durch Technik.“
Der Kybiont aber ist darüber hinaus von organischen Systemen durchzogen – er entwickelt kollektive Intelligenz.

Und in diesem gigantischen Organismus entstehe ein Geist, die Selbstwahrnehmung des Kybionten, die dieser mittels einer kollektiven Intelligenz und eines kollektiven Bewusstseins erlebe.

Wie das Beispiel des Internet gezeigt habe, funktioniere es mittels Mensch-Neuronen, die durch Computer und Kommunikationsnetze miteinander verbunden sind. Durch die weltweit miteinander verbundenen privaten, öffentlichen, kommerziellen, militärischen und lokalen Netze oder Netze von Netzen entstehe unwiderruflich eine neue Form von kollektivem Gehirn.

Rosnay bezeichnet diese Bewusstwerdung des Geistes des kollektiven Gehirns als Introsphäre. Für diese Introsphäre bieten sich für Rosnay zwei Welten:

  • Eine virtuelle Welt digitaler Räume, Gemeinschaften, Klone und Roboter, die mittels Werkzeugen der virtuellen Realität zugänglich wird.
  • Und eine reale Welt biologischer Wesen, die durch ein dichtes Computernetzwerk miteinander verbunden sind, was die Intelligenz der Organismen, in denen sie leben und arbeiten, vervielfacht.

Bessere Schnittstellen

Diese beiden Welten koexistieren auf sich ergänzende Weise entsprechend des jeweiligen Entwicklungsstandes der Anwendungsmöglichkeiten. Es ist nicht mehr die einzelne Maschine, die in alle Lebensbereiche des Lebens eindringt, sondern die gesamte technische Infrastruktur. Die Schnittstellen mit dem Kybionten werden immerzu verbessert, was durchaus vergleichbar ist mit der fortwährenden Verbesserung biologischer Netze. Man benutzt Hybriden, die aus PCs, Telefonen und Fernsehgeräten bestehen.

Diese Gerätschaften sind nicht mehr über Kabel an das Telefonnetz oder an das elektronische Netz angeschlossen, sie sind mobil, tragbar und werden immer kleiner. Ihre starken Batterien gewährleisten tagelange Unabhängigkeit. Die Kommunikation mit diesen Maschinen wird mittels Sprache durchgeführt.

Kommunikation

Kommunikation kann nach Rosnay durch zwei- oder dreidimensionale Gesichter auf dem Bildschirm stattfinden, die dazu dienen, den Umgang mit dem System zu personalisieren. In Form dreidimensionaler Figuren, verlassen sie den Bildschirm, oder kehren zurück. Maschinen lesen unklare Handschriften, auf einem elektronischen Block, erkennen Physiognomien und Gesichtsausdrücke, Gesten und Körperbewegungen.

Auch andere Informationsquellen vermögen sie aufzugreifen, sie können Gerüche und Duftstoffe wahrnehmen. Diese Ausführungen leistungsfähiger Maschinen kommunizieren nach Rosnay diskret mit dem Menschen, sie werden schnurlos ins Ohr gesteckt, kommunizieren mittels Induktion, Radiowellen oder Texten und Bildern.

Die Schnittstellen der virtuellen Realität sind einfach und kaum hinderlich. Sämtliche Netze sind mit dieser Gehirnprothese verbunden. „Konferenzräume mit Gemälden, Schreibtischen, Schubladen und Kaffeemaschinen. Mittels einfacher Befehle treten die Benutzer dieser Räume miteinander in Audio- oder Videokontakt und wirken in Echtzeit auf dieselben Gegenstände ein.“

Suche

Das gleiche gilt für die Suche in virtuellen Supermärkten oder Geschäften, es gilt für das Nachschlagen von Katalogen, es gilt für die Vorführung von Gegenständen, die Manipulation von Molekülen, die Bewegung innerhalb von Mikroräumen. Bei all diesen Prozessen muss der Computer nicht mehr transportabel sein, da er im Ubiquitous Computing zum Bestandteil der Umwelt geworden ist.

Abb.: Julien Then/gemeinfrei

 

© UBIFACTS/2013